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Neue Zeiten in der Politik? Wir blicken zurück aufs Superwahljahr, aber vor allem nach vorne.

1. New Kids on the Block: Eine Frischzellenkur für den Bundestag?

Vorweg geschickt: nicht alles ist frisch im neuen Bundestag. Die Frauenquote dümpelt weiter vor sich hin (34 statt 31 Prozent). Die AfD ist weiterhin mit einer großen und in weiten Teilen radikal rechten Fraktion vertreten. Jede zehnte Person hat die AfD gewählt. Bei der Diversität, auch mit Blick auf berufliche Hintergründe, ist weiter viel Luft nach oben. Und die gescheiterte Wahlrechtsreform hat zur Folge, dass der Bundestag sich aufbläht, weit entfernt von der Zielmarke der 598 Sitze (735 sind’s ab jetzt). Nicht gut für den Ruf des höchsten Hauses. Dennoch: erste Blicke in die vier stärksten Fraktionen geben Grund zur Zuversicht. 

Geradezu disruptiv verändert hat sich die nun stärkste Fraktion des Bundestags, die SPD. Über die Hälfte der 206 Fraktionsmitglieder ist neu, 56 Prozent sind unter 40 Jahre alt, 25 Prozent sogar unter 30. 41 der Fraktionsmitglieder stammen aus Ostdeutschland, mehr Menschen mit Migrationsgeschichte wie Ye-One Rhie prägen die neue SPD im Bundestag. Dass mehr junge Frauen in der Fraktion sind, liegt auch an Verena Hubertz, gefördertes Talent von JoinPolitics. Wir freuen uns sehr, dass wir Verena in den letzten Monaten auf ihrem Weg in den Bundestag begleiten durften und sind gespannt, was die “jungen Wilden” wie Verena und Ye-One alles auf die Beine stellen werden. Die Doku-Serie “Kevin Kühnert und die SPD” zeigt sehr eindrucksvoll und so nah wie vermutlich noch nie einen Weg in die Politik.

Disruptiv ist das Wahlergebnis auch für die Union. Sie verliert eine Vielzahl ihrer Sitze, zugleich ziehen aber 49 Politiker*innen neu in den Bundestag ein. Für den Parteinachwuchs bietet das eine echte Chance, sich im neuen Kräftefeld der Union zu positionieren, mit frischen Ideen und neuen Ansätzen. Bedauerlich: durch das schwache Wahlergebnis haben einige talentierte CDU-MdBs ihr Mandat verloren, darunter Nadine Schön. Wir hoffen sehr, dass diese Talente ihren politischen Weg dennoch fortführen. Meldet euch gerne bei uns: talent@joinpolitics.org

Eine gute Mischung aus “New Kids” und bekannten jungen Gesichtern prägt die neue FDP-Fraktion: Ria Schröder ist eine echte Bereicherung für den Bundestag, ebenso der 27-jährige JuLi-Chef Jens Teutrine. Gemeinsam mit erfahrenen, jungen MdBs wie Johannes Vogel und Konstantin Kuhle wird die neue MdB-Kohorte der FPD garantiert frischen Wind in die nächste Legislaturperiode bringen. 

"Ich bin um 7.30 Uhr aufgewacht und hatte 1500 Mitteilungen auf meinem Handy von Leuten, die mir gratulieren”, berichtet die 23-jährige Emilia Fester der Tagesschau. Emilia ist die jüngste MdB des neuen Bundestag und steht repräsentativ für die neue Grünen-Fraktion: Ein Frauenanteil von 58,5 Prozent. 22 Abgeordnete, die unter 30 Jahre alt sind, insgesamt ein Durchschnittsalter von 42 Jahren. Allerdings: obwohl Vielfalt bei den Grünen inzwischen ein Statut ist, sank die Quote der Menschen mit Migrationsbiografie leicht.

Insgesamt übrigens liegt der Durchschnitt von Menschen mit Migrationsbiografie im neuen Bundestag bei 11 Prozent, deutlich unter dem Bundesdurchschnitt und unter der Quote in der Bundesverwaltung. Die Frischzellenkur hat also ihre Grenzen und es gibt noch genug zu tun, auch für Organisationen wie Brand New Bundestag, die in ihrem Förderprogramm immerhin drei neue MdBs mit diverseren Hintergründen unterstützt haben. Glückwunsch! 

2. Neue Farbenspiele: Zitrus als Geschmack des Fortschritts?

Das schon jetzt legendäre Selfie vom Vorsondieren der Vorsondierung vermochte das zu schaffen, was im Grunde keiner Partei im gesamten Wahlkampf gelang: Ein positives, Hoffnung machendes, aktivierendes Bild zu kreieren, das Brückenbau und Zukunftsorientierung symbolisiert. Mit diesem Bild wurde die Zitrus-Koalition geboren, die sich explizit gegen den Status quo stellt, Veränderung einfordert (von sich und von anderen), für eine neue Politik steht. Nicht ohne Grund wählte die große Mehrheit der Jungwähler*innen grün und gelb.

Das Selfie, zwar der notwendige kommunikative Befreiungsschlag nach einem unterirdischem Wahlkampf, könnte sich noch als Ballast für sicher sehr harte Koalitionsverhandlungen erweisen. Denn trotz aller symbolischen Brücken trennt die Parteien sehr vieles (Staatsphilosophie, Steuern, Finanzen uvm.). Fokussieren wir dennoch auf das Positive: Welche Lösungsvorschläge für die großen Fragen unserer Zeit wären mit pragmatisch agierenden Zitrus-Parteien realisierbar? Vier Beispiele:

  • Ein Staatsfonds für gemeinwohl- und zukunftsorientierte Politik, insbesondere die Rente und Klimaschutz. Das Handelsblatt sieht darin gar eine zentrale Brücke, die die Grünen und Gelben über Trennendes bauen könnten. Uns würde das besonders freuen, da Verena Hubertz genau dafür schon eine Vorlage entwickelt hat in ihrer JoinPolitics Seed-Phase, siehe Zukunftsfonds 2.0
  • Eine Digitalisierungsoffensive, wie es sie in Deutschland noch nie gab: vom massiven Ausbau der digitalen Infrastruktur über die Förderung der Digitalwirtschaft bis zur Modernisierung der Verwaltung und der Digitalisierung der Bildung. Hier wäre Deutschland mit der FDP und den Grünen voraussichtlich gut aufgestellt. 
  • Ein neues Konzept für den Sozialstaat: Sollten Gelb und Grün mit der SPD in einer Ampel koalieren (wonach es aktuell aussieht), würden voraussichtlich weite Teile des neuen Sozialstaatskonzepts der SPD umgesetzt werden. Sanktionsmechanismen wie das Zuverdienst-Verbot für junge Menschen, die bei ihren Eltern leben, die Hartz IV beziehen, dürften sehr bald dort landen, wo sie hingehören: in die politische Mottenkiste. Hartz IV würde zum Begriff der Vergangenheit werden, abgelöst durch das stärker auf Anreize setzende Bürgergeld. 

Bleibt abzuwarten, ob alle verantwortlichen Protagonist*innen sich weiterhin so ernsthaft und professionell um den gemeinsamen Nenner, das konstruktive, brückenbauende Verhandeln bemühen. Das täte übrigens auch der politischen Kultur in Deutschland sehr gut; möge das Zitrus-Selfie nur der Anfang gewesen sein. 

3. Blick in die Glaskugel: Wird 2022 das Jahr der Länder und Kommunen? 

Es gibt viele gute Gründe, möglichst rasch die neue Regierung zu bilden: Die großen Fragen unserer Zeit, die zügig politische Antworten erfordern. Die Wähler*innen, die eine funktionale, moderne und schnell arbeitende Politik (zu Recht) erwarten. Aber auch das neue Jahr, das nicht nur mit einer deutschen G7-Präsidentschaft aufwartet, sondern auch mit vier hochspannenden Landtagswahlen. 

Im März wird im Saarland gewählt, im Mai in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, im Herbst in Niedersachsen. Heißt: die Kuschel-Atmosphäre der Koalitionäre dürfte bald wieder verfliegen, denn auch von den Bundespolitiker*innen Lindner und Baerbock wird in den Ländern Wahlkampf erwartet. 

Wir bei JoinPolitics blicken gespannt auf die vier Landtagswahlen, darauf hoffend, dass die Parteien dort ähnlich inspirierendes, ideenreiches Nachwuchspersonal rekrutieren werden wie zuletzt zur Bundestagswahl. Wer sind die großen politischen Talente, die 2022 die Landtage erobern wollen? Welche politischen Ideen gilt es, in den Bundesländern umzusetzen? Schreibt uns gerne und schlagt uns vor, welche politischen Talente mit neuen Ideen wir dringend auf Landesebene unterstützen sollten! 

Und nicht zu vergessen: auch in den Kommunen tut sich sehr viel, von Tübingen bis Greifswald stehen Bürgermeister*innen-Wahlen an. Wie bereits angekündigt, wird JoinPolitics das Engagement in der Kommunalpolitik weiter ausbauen, denn Kommunen sind ideale Experimentierfelder für politische Innovationen und Talente, die sich den Quereinstieg in die Politik zutrauen. Auch hier die Bitte: meldet euch bei uns, wenn ihr über innovative Kommunen und spannende Bürgermeister*innen- Wahlen stolpert. Denn egal, ob Superwahljahr oder nicht: Wir sind immer auf der Suche nach politischen Talenten & Ideen! Macht mit, nominiert! Wir haben alle gemeinsam viel zu tun. 


Ein Beitrag von Philip Husemann, Co-Geschäftsführer JoinPolitics