12.7.2024
Als Ende Mai die Kommunalwahlen in Thüringen stattfinden, fehlen in mehr als 90 Orten die Kandidierenden, berichtet u.a. die ZEIT. In den entsprechenden Ortsteilen und -schaften wurden “leere” Stimmzettel ausgehängt, sodass Wähler*innen dort eigene Vorschläge eintragen konnten.
Das Beispiel aus Thüringen verdeutlicht ein generelles Problem, das sich auch in anderen Bundesländern zeigt und durch die heutige Politik zieht: Immer weniger Menschen wollen sich auf klassischem Wege, z.B. in Parteien oder durch kommunale Mitarbeit, politisch engagieren. Gerade Parteien verlieren Mitglieder, ohne dass die Neumitglieder den Schwund auffangen könnte. Fehlt es in unserem Land an Nachwuchstalenten oder einfach an Interesse?
Durch verschiedene Scouting-Runden in den vergangenen Jahren wissen wir, dass es hierzulande großes Potential an politischen Talenten gibt. Da sind die, die bereits in die Politik “gesprungen” sind, sich in Parteien engagieren, für Mandate kandidieren oder Initiativen gegründet haben. Eine weitere Gruppe hat ein politisches Problem erkannt und einen konkreten Lösungsansatz entwickelt, den sie nun umsetzen will. Sie bewerben sich häufig für unser Talentprogramm.
Eine letzte Gruppe umfasst alle, die sich politisch interessieren und regelmäßig fragen, ob sie nicht doch politisch aktiv werden wollen. Personen, die sich vorstellen können, Verantwortung zu übernehmen und zu gestalten. Die aus verschiedenen Gründen bisher nicht “gesprungen” sind und sich stattdessen abseits der Politik Karrieren aufgebaut haben.
23 von ihnen haben wir in unserem neuen Workshop Der Politische Kopfsprung zusammengebracht. 23 Personen mit unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Hintergründen, verschiedenen politischen Erfahrungen und einer zentralen Frage: “Wage ich den Sprung in die Politik oder nicht”? Unser Ziel: Ihnen Mut und Klarheit für ihren weiteren Weg geben.
Dafür haben wir die Gruppe, die aus ganz Deutschland zum Workshop angereist ist, zunächst nach Berlin in den Deutschen Bundestag eingeladen, bevor sie weitere zwei Tage in ruhiger Atmosphäre in der Begegnungsstätte Schloss Gollwitz verbrachten.
Nach einem kurzen Kennenlernen hatten sie die Möglichkeit, sich in einem Real Talk mit den beiden Bundestagsabgeordneten Verena Hubertz (SPD) und Kassem Taher Saleh (Bündnis 90/Die Grünen) sowie dem ehemaligen Abgeordneten Dr. Peter Tauber (CDU) über Ängste und Sorgen rund um den Schritt in die Politik, die Kandidatur und das Ausscheiden aus einem Mandat zu sprechen.
Schnell zeigte sich, dass die Gründe nicht politisch aktiv zu werden, zwar im Einzelfall variieren, aber sich dennoch ähneln: Für viele sind es Fragen der Vereinbarkeit von Privatleben und politischer Arbeit, der damit verbundene zeitliche Aufwand und der Respekt vor Stress. Auch fehlendes Wissen über Parteien oder die Bedeutung (partei)politischer Netzwerke werden als Gründe thematisiert. Aber auch noch heute sind es finanzielle Ressourcen, die verhindern, dass jemand politisch aktiv wird. Erschwerend hinzu kommen die Anfeindungen gegenüber Politiker*innen, die in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen haben und besonders Kommunalpolitiker*innen treffen. Und was macht man, wenn man letztlich nicht gewählt wird?
Eine Reihe von Unsicherheiten und Fragen, die auch unsere Fellow und Bürgermeisterin von Coesfeld, Eliza Diekmann, kennt. Wie viel Zeit beansprucht das Amt? Wie organisiert man sich und das Privatleben? 2020 kandidierte die gelernte Journalistin erstmals für das Amt - und gewann als parteilose Kandidatin zwei Drittel der Stimmen. Beim “Politischen Kopfsprung” gab sie Einblicke in ihre Erfahrungen und half der Gruppe, sich ihren Ängsten zu stellen und sich über ihren “Plan B” bewusst zu werden.
Der direkte, offene Austausch mit aktiven Politiker*innen bildete einen Schwerpunkt des Workshops. Die Gespräche mit Politik-Profis in geschützter Atmosphäre boten die Chance, ein reales Bild der Herausforderungen zu zeichnen, gleichzeitig aber auch persönliche Ratschläge und Einblicke in den Politikbetrieb zu erhalten. Hier setzte auch eine Session mit Joschka Knuth, seit 2022 Staatssekretär im Ministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur des Landes Schleswig-Holstein, an. Er teilte seine Erfahrungen zur Funktionsweise von Parteien, der Bedeutung des eigenen Netzwerks und nach Karriereoptionen in der Politik.
Wichtig neben diesen Formaten war uns zudem, den Teilnehmer*innen praktisches Wissen zu vermitteln. Denn: gerade die kommunikativen Anforderungen an Politiker*innen haben zugenommen. Neben Bianca Praetorius, die zahlreiche rhetorische Kniffe vermittelte, gab Julius van de Laar einen Einblick in die Bedeutung des Storytellings für erfolgreiche politische Kommunikation. Beide unterstützen JoinPolitics bereits seit Jahren als Fellows.
Doch all diese inhaltlichen Workshops sind nichts ohne genügend Raum für Austausch untereinander. Abseits alltäglicher Fragen sollte sich die Gruppe voll auf ihren potentiellen Sprung konzentrieren können. Die gemeinsame Busfahrt von Berlin nach Gollwitz, die räumliche Distanz der Tagungsstätte zum sonstigen Alltag und die gemeinsame Zeit haben aus 24 Personen, die sich vorher nicht kannten, schnell eine Gruppe Gleichgesinnter gemacht, die sich nicht nur gegenseitig zugehört hat, sondern auch bestärkt und Mut gibt - und wer weiß, damit vielleicht auch den Grundstein dafür gelegt hat, um bei einem Wiedersehen in der Politik gemeinsam Brücken zu bauen.
Ob und wie viele der Teilnehmer*innen letztlich den Sprung in die Politik wagen, können wir an der Stelle nicht beantworten. Wir hoffen natürlich, dass es möglichst viele sind! Verraten können wir jedoch, dass einige zumindest symbolisch den Kopfsprung (in der Havel) gewagt haben.
Was haben wir aus dem Workshop gelernt?
Wir danken unseren Förderpartnern der Bundeszentrale für politische Bildung sowie der Nemetschek-Stiftung.